Was geschieht beim Sterben?
STERBEPROZESS – Loslösung, Durchgang, Grenzerfahrung, Abschied.
Wenn es soweit sein wird mit mir,
brauch ich den Engel in Dir.
Bleibe still bei mir in dem Raum,
jag den Spuk, der mich schreckt, aus dem Traum,
sing ein Lied vor dich hin, das ich mag
und erzähle was war manchen Tag. ( …)
Wenn es soweit sein wird mit mir,
brauch ich den Engel in dir.
(K. F. Barth)
Wenn wir sterben, beginnt ein Prozess der Loslösung. Im Anblick des Todes, dieses unausweichlichen Geschehens, stirbt zuerst das Ich mit all seinen Beziehungen, Bindungen und Besitz. Elisabeth Kübler Ross hat diese Sterbephasen: Verweigerung, Zorn, Verhandlung, Depression, Hinnahme, eingehend beschrieben und hat damit ein „Grundgerüst“ zum Verständnis eines uns, im letzten geheimnisvollen, Geschehens geschaffen. Dennoch bleibt jeder einzelne Tod individuell und die Übergänge können fließend ineinander übergehen oder manche Phasen auch ausbleiben.
Während der oder die Sterbende für die Anwesenden immer mehr das Bewusstsein und den Bezug zur diesseitigen Realität verliert, weitet sich die Wahrnehmung in die geistige Welt, das Bewusstsein wird transformiert vom Ich, von der Individualität, zum grenzenlosen, ganzheitlichen Sein. Diese Loslösung geschieht meist in Etappen und ist mit der Erfahrung einer heiligen Macht, aller Machbarkeit entzogen und kann mit tiefen existentiellen Krisen verbunden sein. Wie bei einem Geburtsvorgang die Wehen intervallartig kommen, so geschieht beim Sterben ein abwechselndes Klammern an diese Welt und ein Loslassen von Bindungen und Vorstellungen. Das Ich bäumt sich mit seinen Machtansprüchen, Denkmustern, Begehrlichkeiten in einem ungleichen Kampf noch einmal auf, um endgültig zu unterliegen. Dieser Durchgang wird in allen großen religiösen und mythischen Erzählungen der Menschheit dargestellt, wie weiter unten noch geschildert. Die Wahrnehmungen des „Drüben“ können nicht nur hell und freundlich sein, sondern schwer, dunkel, beängstigend, mit Begegnungen von Fratzen, Monstern, bedrohenden Geistern, in Verbundenheit mit den eigenen Grenzen. Man hat keine Kraft, den steil aufragenden Berg zu ersteigen, den tiefen, bodenlosen Graben zu überspringen, die stinkende Mülldeponie zu umgehen oder zu überschreiten, man fühlt sich nackt, gelähmt, hilflos, außerhalb von Zeit und Raum, fallend ins Bodenlose, von der Wucht eines Orkans, gigantischen Meereswogen, versengenden Feuersflammen überwältigt.
Wie erfährt der oder die Sterbende in dieser Phase Gott? Auch religiös desinteressierte, atheistische Menschen berichten nach einem Nahtoderlebnis, dass sie eine „gerichtsähnliche“ Erfahrung machen mussten. Nicht vor einem personalisierten Gott, sondern vor einer übernatürlichen Instanz der Wahrheit, in deren klarem Licht alles Verborgene deutlich erkennbar ist. Hier kommt die Urangst alles Geschöpflichen zum Durchbruch, vor einem unbekannten Gott, unabhängig von religiöser oder atheistischer Prägung, unabhängig von religiöser Erziehung. Diese Konfrontation erfahren wir in diesem Leben in mehr oder minder ausgeprägter Form unbewusst bereits im Mutterleib, in schweren Krisensituationen, bei Traumata, Gewalt, Trennung, als eine Grenzerfahrung des Transzendenten, in der man nur mehr allein auf sich gestellt ist. Die Urangst hat uns nicht eine „dunkle“ antiquierte Theologie eingeredet, sondern es sind die konkrete Erfahrungen von Sterbenden, wie sie von einfühlsamen Sterbebegleiterinnen, Pflegepersonal oder Angehörigen berichtet werden.
Wie wichtig ist in dieser Phase therapeutische, seelsorgliche Begleitung? Es werden immer weniger Rituale im konfessionellen Kontext gewünscht, die von den Religionsgemeinschaften angeboten werden, mit der Begründung, nicht religiös zu sein. Ironisch könnte man darauf erwidern: die Seelsorger seien es ja auch nicht …! Tatsächlich geht es um die Aufarbeitung des Lebens mit allen Defiziten und Brüchen, um Versöhnung, Begleitung von Ängsten und Vorbereitung auf den Übergang. Der Tod schafft sich mit seiner Unausweichlichkeit und Endgültigkeit einen heiligen machtvollen Raum, dem kein Mensch entrinnen kann.
